Stadion an der Alten Försterei

Liebe ist eine runde Sache: „Eisern Union“

Ein Leben ohne Fußball ist möglich, ähnlich wie ein Leben ohne Mops – aber sinnlos, gleichermaßen. Dieses Korrektiv eines Zitates des Karikaturisten Loriot ist seit Kindesbeinen als Binsenweisheit eine biographisch durchgängige Wirklichkeit meines täglichen Seins geworden.
Meinen Körper hat der Fußball-Bazillus am 13. Juni 1982 angefallen. Die Inkubationszeit war bemerkenswert kurz. Die Ansteckung und der Ausbruch fielen auf den gleichen Tag, eben diesen Sonntag, des 13. Juni. Es war aber glücklicherweise nicht der Ausbruch einer gemein plagenden Krankheit, sondern das Aufflammen einer mich treu begleitenden Liebe. An diesem Juni-Tag wollten die Mannschaften von Argentinien und Belgien die 12. Fußball-Weltmeisterschaft in Spanien eröffnen – und da wollte, da musste ich unbedingt dabei sein, zumindest als kindlicher Fan-Athlet auf der elterlichen Couch. Meine Gegner für dieses Vorhaben standen aber nicht auf dem grünen Rasen - in kurzer Hose. Vielmehr standen sie in Form meiner Eltern vor mir und das mit ernsten Mienen und verwiesen mich mit dem Hinweis auf die späte Anstoßzeit in mein Kinderbett. Sie hatten damals eben auf dem Spielfeld des Lebensalltages die Hosen an, nur kurz waren diese meist nicht. Da half kein virtuoses Dribbling, keine noch so raffinierte Körperfinte, auch meine leidenschaftlich eingesetzten kindlichen Waffen: Betteln, Zetern und Geschrei vermochten nicht die Spielauffassung der Eltern zu korrigieren. So lag ich pünktlich zum Spielbeginn uneinsichtig mit Tränen und Jammern im Bett – Die Fußball-WM musste ohne mich starten. Mein erstes Fußballspiel ging also verloren, mit 0:2, Torschützen Mama und Papa. Im Nachhinein kristallisierten sich diese beiden Treffer jedoch als Eigentore heraus. Meine Liebe zum Fußballspiel war entflammt, blieb seitdem ungebrochen und mit zehnjähriger Verspätung sah ich 1992 im gekauften VHS-Format und ungekürzter Spielfassung, wie anno 1982 die Belgier die Argentinier 1:0 bezwangen. Auch für mich ein später Sieg, wenngleich nach Verlängerung.
Genau diese kindlich reine begeisterungsfähige Liebe zum Fußball begleitet mich heute in Richtung Köpenick, als ich mich zum Spiel des 1. FC Union gegen die Queens Park Rangers aus London aufmache. Es ist für die Köpenicker der letzte vorbereitende Test auf die bevorstehende, von Aufstiegsambitionen begleitete Saison 2017/18. Viele lange Jahre habe ich die Unioner nicht mehr live im Stadion verfolgt. Der Fußweg zum Stadion Alte Försterei ist in seiner unmittelbaren Lage an der Wuhlheide herrlich idyllisch, der Waldweg zum Stadioneingang führend ist mit seinen noch verbliebenen Asphaltfragmenten aus DDR-Zeiten wunderbar bescheiden. Wie herzerfrischend in den heutigen Zeiten des überkommerzialisierten Profi-Fußballs. Im Stadion angekommen werde ich von „Der roten Wand“ empfangen, die stimmgewaltigen Schlachtenbummler der Eisernen. Da kann einem die Gänsehaut schon den Rücken empor kriechen! Gerade werden die Unioner Spieler einzeln und namentlich durch den Stadionsprecher genannt - allesamt und unisono vom Fangebrüll als Fußballgott begrüßt. Wenig später erklingt die von Nina Hagen intonierte Vereinshymne der Eisernen. Die von der Gottmutter des Punks an die Unioner Fangemeinde flapsig gesungenen Fragen wie: Wer spielt immer volles Rohr oder wer schießt gern ein Extra-Tor, beantworten diese mit brüllender Inbrunst: Eisern Union, Eisern Union! Was für ein fanatisches Duett und das im allerbesten Wortsinne. Da mag man schon ein Gefühl bekommen, dass die Fans der Eisernen den Fans anderer Klubs nicht gleichen, sondern gleicher sind. Wo andere Fußballvereine Fans haben, haben in Köpenick die Fans einen Verein – Union ist anders, eine Schicksalsgemeinschaft. Die scheinbar unerschütterliche symbiotische Beziehung zwischen Verein und Fans, die treu, enthusiastisch und mitunter in selbstaufopfernder Leidensfähigkeit dem Verein eisern die Stange halten ist sprichwörtlich. Man geht hier nicht zum Fußball, man geht zu Union. Eine vergleichbar klaglose, schon traditionell verankerte Schicksalsergebenheit, vereinshistorisch allen sportlichen und wirtschaftlichen Unbilden trotzend, findet sich unter Fans anderenorts in Deutschland kaum.
Die Wurzeln des 1. FC Union Berlin basieren auf den 1906 gegründeten FC Olympia Oberschöneweide. Von Beginn an war die Anhängerschaft des Klubs durch die vor Ort angesiedelte Industrie proletarisch geprägt. Erste Erfolge auf regionaler Ebene wurden früh erzielt. 1920 wurde das Stadion an der Alten Försterei, das heute von den Union-Fans liebevoll als ihr „Wohnzimmer“ bezeichnet wird, für die Oberschöneweider als Heimspielstätte errichtet. Pate für die Namensgebung stand das neben dem Platz gelegene Forsthaus. Sportlich gekrönt wurde die Periode bis zum beginnenden 2. Weltkrieg mit dem Erreichen des Endspiels um die Deutsche Meisterschaft 1923. Als Union Oberschöneweide spielte man das Finale gegen den schon damals etablierten Hamburger SV. Dieses ging allerdings mit 0:3 deutlich verloren. Aus eben diesen 1920er Jahren stammt auch der berühmte Schlachtruf der Union-Fans „Eisern Union“. Abgeleitet davon, dass viele eiserne Spieler ihre Brötchen in der ortsansässigen eisenverarbeitenden Industrie verdienten, was ihnen auch die Bezeichnung als die „Elf der Schlosserjungs“ einbrachte. Nach Kriegsende verschwand der Klub, mitausgelöst durch die Übersiedelung vieler Spieler in den Westteil der Stadt, lange in der sportlichen Bedeutungslosigkeit. Die Rückkehr in das Oberhaus des deutschen Fußballs, der damaligen DDR-Oberliga, erfolgte 1966. Sportpolitisch veranlasst fiel zeitgleich die Neugründung des Vereins am 20. Januar 1966 unter den heute als Marke bekannten Namen 1. FC Union Berlin. Unter den Fans wird dies bis heute als eigentlicher Startpunkt des Vereins anerkannt und zelebriert.
Die sportlich größte Stunde zu DDR-Zeiten erlebten die Oberschöneweider mit dem Gewinn des FDGB-Pokals 1968. Mit der aufkommenden Rivalität zum staatlich protegierten BFC Dynamo fanden die Unioner zunehmend auch Sympathisanten unter Bürgern, die den DDR-Alltag kritisch sahen. Ansonsten galt man gemeinhin als das, was man gern als Fahrstuhlmannschaft bezeichnet. Ab- und Aufstiege wechselten unstetig einander ab. Die Wendezeit und damit der Auftakt Richtung Profi-Fußball im vereinigten Deutschland verlief 1990 mit einem Spiel gegen Hertha BSC verheißungsvoll. Unter volksfestartiger Atmosphäre versammelten sich über 50.000 Besucher im Berliner Olympiastadion. Die folgenden Jahre verliefen allerdings ernüchternd. Sportliche Erfolge konnten nicht veredelt werden, da diese mit wirtschaftlichem Überlebenskampf und drohendem Bankrott einhergingen. Trotz zweifachen sportlichen Aufstiegs in die 2. Bundesliga wurde den Unionern aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit die Lizenzerteilung verweigert. Kurz vor dem Konkurs stehend kulminierte diese prekäre Lage 1997 in die von eisernen Fans organisierte „Rettet-Union-Demonstration“ durch das Brandenburger Tor. Keine omnipräsenten Geldnöte, kein Ausbleiben großer sportlicher Erfolge vermochten die unerschütterliche Treue eines eisernen Union-Fanherzens zu brechen. Das schließlich einsetzende finanzielle Engagement der Filmrechte-Firma „Kinowelt“ konsolidierte die Eisernen und brachte sie vorübergehend in ruhigeres Fahrwasser. Endlich stieg man 2001 erstmals in die 2. Bundesliga auf und krönte die erfolgreiche Saison mit dem Erreichen des DFB-Pokalfinales gegen den FC Schalke 04, welches gegen die Knappen mit 0:2 verloren ging. Drei Jahre spielten die Köpenicker in der Folgezeit in der zweithöchsten Spielklasse. Auf diese erfolgreichen Zeiten folgte der wohl tiefste Fall der Vereinsgeschichte, als man 2005 bis in die Oberliga abstieg. Finanzielle Sorgen hatten sich auch wieder breit gemacht. Die vom DFB geforderten Liquiditätsreserven konnten erneut nur durch Spenden eingebracht werden, u. a. durch den Spendenaufruf „Bluten für Union“.
2009 sicherten sich die Unioner den Aufstieg und damit die Rückkehr in die 2. Bundesliga. Seither haben sich die Eisernen in der zweiten deutschen Spielklasse etabliert. Seit 2003 findet, initiiert durch den Fanklub „Alt-Unioner“, jährlich während der Adventszeit das sogenannte Weihnachtssingen statt. In einem Meer aus Kerzen, Glühweinen und rot-weißen Kluften wird gemeinschaftlich der weihnachtlichen Sangesfreude gefrönt. Mittlerweile deutschlandweit bekannt fanden sich 2015 zum Chorsingen 28.500 Teilnehmer in der Alten Försterei ein. Zwischen 2008 und 2013 wurde die lange verzögerte und längst überfällige Modernisierung der Alten Försterei realisiert. Auch hierbei spielten die Union-Fans eine bemerkenswerte Hauptrolle. Aufgrund der finanziellen Gegebenheiten wurden Teile der auszuführenden Arbeiten freiwillig und unentgeltlich von ihnen übernommen. Sogar internationale Beachtung fand die Spielstätte der Eisernen anlässlich der WM 2014 als „WM-Wohnzimmer“ bei der die Berliner ihr privates Sofa im Stadion aufstellen konnten, um auf einer Videowand die Live-Übertragungen gemeinschaftlich verfolgen zu können.
Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass es auch künftig dem Verein mit seinen handelnden verantwortlichen Personen in enger Kooperation mit den Fans gelingen mag, den Spagat zwischen den kommerziellen Erfordernissen der Fußball-Moderne unter gleichzeitiger Bewahrung eines bodenständigen, von rot-weißem Herzblut getragenen Fußball-Traditionalismus zu bewerkstelligen. Das Testspiel übrigens gegen die englischen Hauptstädter fiel einem Spielabbruch durch ein heftig einsetzendes Sommergewitter mit seinen infernalischen Regenfällen nach zehn Minuten zum Opfer. Die neu angesetzte Partie gewannen die Unioner zwei Tage später. Möge dieses Bild also ein gutes Omen für der Unioner Zukunft sein, dass der Köpenicker Verein auch in der so überhitzten Großwetterlage des Profi-Fußballs weiterhin eisern ihre bemerkenswert abgesonderte Identität wahren und dies vielleicht sogar im Haifischbecken der ersten Bundesliga.
Abschließend sei es jedem ans Herz gelegt, egal ob eingesessener Berliner oder unbedarfter Auswärtiger, ob Fußballbegeisterter oder Fußballskeptiker, dem bescheidenen Schmuckkästchen Alte Försterei mit seiner inbrünstigen rot-weißen Fangemeinde einen Besuch abzustatten. Es wird ein unvergessliches Erlebnis bleiben!

von L.H.

Wegbeschreibung
Verkehrsanbindung: Tram Nr. 27, 60, 67; Haltestelle „Alte Försterei“