Ehemaliges Kiezcafé in der Wühlischstraße 42

Hungrige Leute in Berlin II, Weihnachten ohne Weihnachtsgans oder Jesus und Mohamed in der Küche (Weihnachtsspecial I)

Das hier soll geschuldet der Jahreszeit - wir haben jetzt kurz vor Weihnachten 2017 - ein Weihnachtsspecial werden.
Es geht um das ehemalige Kiezcafé in der Wühlischstraße 42, das sich jetzt in der Petersburger Straße 92, Vorderhaus, 2. Obergeschoss befindet. Lange habe ich überlegt, ob ich etwas über meine Erlebnisse in der Obdachlosenszene schreibe, oder ob ich dort viele irgendwie bloß stelle. Aber jetzt ist Weihnachtszeit und da drängt sich das Thema ja geradezu auf. Ich möchte aber keine traurige Schmonzette verfassen, die zu Tränen rührt.
Ich hatte Anfang der 2000er Jahre eine ABM Stelle im Kiezcafé in der Wühlischstraße. Das Kiezcafé war damals eine Einrichtung, die sieben Tage die Woche rund um die Uhr geöffnet war - auch im Sommer. Es war ein öffentliches Café für den Kiez, wo es sehr billiges warmes Essen und auch Frühstück und Abendbrot gab, ausserdem existierten 16 Schlafplätze, das heißt, abends um elf Uhr wurden Liegen aufgeklappt und in den Gastraum gestellt.
Für mich war das der absolute Job, weil ich als Küchenfee freie Hand hat und selbst entscheiden konnte, was ich aus den Lebensmitteln von der Tafel zaubern wollte. Da war Improvisationstalent gefordert, denn um 12 sollte das Mittagessen fertig sein. Um die Gerichte auch ohne Fleisch schmackhaft zu machen, mußte ich meine volle Kreativität in die Waagschale werfen. So reicherte ich einmal eine fade Gemüsesuppe, die einfach nach nichts schmecken wollte, mit Apfelsinensaft und gehacktem Ruccola an und es funktionierte.
Ab drei Uhr bekamen wir das übriggebliebene Essen aus der Parkklinik Weißensee, aber nicht jeden Tag und sehr oft blieb unterwegs das Auto auf der Strecke liegen.
Das Schöne an unserer Einrichtung war, das die Leute ein Ganztagscafé hatten. Keiner brauchte nach dem Frühstück die Einrichtung verlassen. Der Grund dafür war, das unser Chef Jürgen Dincher, der selbst früher einmal obdachlos war, eigentlich ständig anwesend war. Nach seinem Weggang hatte das Kiezcafé nur noch Öffnungszeiten von 10 Uhr bis 16.30, und am Wochenende war es ganz geschlossen. Übernachtung ist wohl nur noch in der Winterzeit möglich.
Jedenfalls als ich da angefangen habe schimpfte jeder über den Chef. Dass das Café von ihm abhängt, war keinem so richtig klar. Mit den Leuten, die ja nicht alle obdachlos waren, kam ich super klar. Ich wurde gleich freundschaftlich in ihren Kreis aufgenommen. Ich hatte meine Lieblinge, denen ich zwei Steaks und drei Bratwürste zuschusterte. Bald fühlte ich mich da pudelwohl. Mit den Arbeit statt Strafe Leuten stampften wir Kartoffeln zu Brei und brieten Würste, wenn die Tafel welche gespendet hatte.
Oft halfen mir auch Jesus und Mohamed beim Abwasch. Der eine war ein spanischer Katholik, der ständig in der Bibel las, der andere war ein streng muslimisch lebender Schwarzafrikaner, der den Koran immer in Reichweite hatte. Aber bei uns verstanden sich die unterschiedlichen Religionen sehr gut.
Ich wurde natürlich mit haufenweise Schicksalen konfrontiert, zuerst glaubte ich naiv noch alles was mir erzählt wurde, zum Schluss glaubte ich gar nichts mehr. Wer vielleicht mal den Film "Die Liebenden von Pont Neuf" oder den Film "My private Idaho" gesehen hat, kann sich eine Vorstellung von den Leuten machen.
Das beste an der Tätigkeit war, dass niemals Langeweile aufkam. Immer war etwas los, jeden Tag gab es etwas neues. Wenn die Lebensmittelaufsicht kam, mussten wir das Essen verschwinden lassen, weil wir offiziell nicht kochen durften. Aber die Lebensmittel waren da, und viele Kiezcafébesucher hatten zuhause kein Gas und keinen Strom, so dass sie mit rohen Kartoffeln, Porree und Mohrrüben von der Tafel nichts anfangen konnten.
Wir hatten auch ein Müllproblem so groß wie ein Ozean, da wir haufenweise verfaultes Gemüse gespendet bekamen und der hauseigene Container bald voll war.
Viele Gäste waren natürlich absolut keine Engel, zum Beispiel flogen zwei Weihnachtsgänse, die vor Weihnachten von Kaisers gespendet wurden, auch ohne Federn davon, das heißt, sie wurden in Bares umgetauscht. Am Heiligen Abend blieb stattdessen die Küche kalt, was mir für unsere Truppe echt leid tat.
Aber damals war die Tür dafür immer auf. Vor ein paar Jahren war ich einmal am 24. Dezember abends da, weil ich Zeitschriften abgeben wollte und musste mit einer Truppe frierender, frustrierter Männer bis 20 Uhr vor der verschlossenen Tür stehen. Die neuen Mitarbeiter haben festgelegte Arbeitszeiten.
Falls das mal jemand von der alten Truppe liest: Viele Grüße an die drei Jürgens, an Melanie, Ralf, Jean Jaques, Mohamed, Antonio, Olaf, Momo, Micha, Alexander, Astrid, an Peter und an Peter den Kater. RIP Alfons, Professore, Robby.

von Tanja
Ich wurde 1962 in einem kleinen Dorf in Mecklenburg Vorpommern geboren und kam mit 19 nach Berlin. Hier übte ich verschiedene Tätigkeiten aus. Zuletzt war ich als Sekretärin tätig.

Wegbeschreibung
Das neue Kiezcafé befindet sich in der Petersburger Straße 92, Vorderhaus, 2. Obergeschoß

Durchfuttern in Berlin
Für Fahrradfahrer mit Zeit
Die kulinarische Reise beginnt bei Nr. 1 an der ehemaligen Freibank Landsberger Allee Ecke Hausburgstraße (Erinnerung an hungrigere und schlankere Zeiten), dann wird die Landsberger links in Richtung SEZ runter gefahren, es wird links in die Petersburger eingebogen und auf der anderen Straßenseite befindet sich in der Petersburger 92 die Nr. 2 das Kiezcafe (als es noch in der Wühlischstraße war, habe ich dort 2001 gekocht). Dann geht es geradeaus über die Frankfurter, die Warschauer Straße runter bis zu Nr. 3 dem Bäcker in der Rewekaufhalle (der Latte ist hier noch schmackhaft und bezahlbar), man überquert die Warschauer Straße, geht auf der anderen Seite die Revaler runter, biegt rechts in die Modersohnstraße, überquert die Modersohnbrücke und dort ist Nr. 4 die Fleischerei Niemann (Bockwurst 1,20 €). Danach biegt man rechts in die Stralauer ein und überquert links die Oberbaumbrücke. Dann geht es die Skalitzer Straße geradeaus bis zum S- Bahnhof Schlesisches Tor zur Nr. 5 dem Pizzabäcker und dem Linsensuppenimbiss. Dann geht es geradeaus die Skalitzer runter bis zum Kotti, dort wird links abgebogen und den Kottbuser Damm bis zum Hermannplatz zu Nr. 6 (türkische Pasten und Deutsche Hausmannskost) hochgefahren. Bei Karstadt (Kartoffelpuffer) wird rechts in die Hasenheide eingebogen. Es geht geradeaus bis zum Mehringdamm am Südstern vorbei. Dort wird die Straße überquert. Von der anderen Straßenseite geht es rechts in die Yorkstraße ab. Dort befindet sich in der Yorckstraße 76 die Nr. 7, der Feinkostladen Landkost (Superbrötchen). Dann geht es wieder zum Mehringdamm zurück und man biegt links in Richtung Kreuzberg ein. Am Gitschiner Ufer wird rechts eingebogen und in Richtung Oberbaumbrücke gefahren. Vor dem Biosupermarkt auf der linken Seite der Skalitzer ist Station Nr. 8 (hungrige Straßenzeitungsverkäuferin). Dann geht es über die Oberbaumbrücke die Warschauer Straße runter bis zum Narvagelände, das sich rechterhand der Straße von der Kreuzung Stralauer Ecke Warschauer bis zum S- Bahnhof Warschauer Straße erstreckt. Dort ist Station Nr. 9 (ehemalige Narvakantine). Ein Stückchen weiter die Warschauer hoch befindet sich am S- Bahnhof Station Nr. 10 (dort war bis vor kurzem der Bratwurstimbiss Hahnfeld). Endstation

Wenn man aus dem S-Bahnhof Warschauer Str. kommt, geht man die Warschauer in Richtung Frankfurter Allee hoch, überquert die Frankfurter und geht gerade die Petersburger Str. runter. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.